P. Jules Chevalier
15.3.1824 – 21.10.1907
Was stimmt? Was ist Idealisierung? Das ist auch bei P. Chevalier nicht leicht zu trennen. Wenn ein drittes Kind hineingeboren wird in die Unsicherheit einer Familie, die „in einer ans Elend grenzenden Armut“ lebt, kann man wohl schwerlich von einer „unbeschwerten Kindheit“ in unserem Sprachgebrauch reden. Da war auch viel Kampf ums Überleben, Ernst und Strenge und ein aufbrausender Vater und eine aggressionsbremsende Mutter, die der kleine Jules unter einen Hut bringen musste. Das war vermutlich nicht immer leicht, weil er durchaus für Streiche zu haben war. Halt gaben „Gerechtigkeit und Ehrlichkeit in der Familie und die aufrichtige und ungekünstelte Frömmigkeit“ der Mutter, wie er selbst schreibt. All das prägte auch sein späteres Leben. Das ging selten leicht oder gar spektakulär, viele Hindernisse mussten mit viel Ausdauer überwunden werden. Aber gerade darin erlebte er besonders die Hilfe Gottes.
Auch seine Berufung ist nicht spektakulär. Der 12-jährige am Ende seiner Grundschulzeit, der schon einige Jahre ganz ernsthaft als Ministrant gedient hatte, erlebt bei seiner ersten Heiligen Kommunion vielleicht zum ersten Mal, dass die Begegnung mit Gott Freude machen kann: „Auf dem Nachhauseweg strömte mein Herz vor Freude über“, schreibt er. Er will Priester werden, ein guter, ein sehr guter sogar. Aber das Seminar kostet Geld, das die Familie nicht hat. So beginnt er eine Schusterlehre, bekommt nebenher mehrmals die Woche beim Pfarrer Lateinunterricht und zieht beides mit großem Eifer und Strenge gegen sich durch. Fünf Jahre lang opfert er seine Jugend und all das, was Jugendliche in seinem Alter sonst tun. Hänseleien dafür sind ihm sicher, zumal sein Wunsch, Priester zu werden, durch eine Indiskretion der Mutter öffentlich geworden war. Er gilt als naiver Träumer.
Dann geschieht das erste Wunder: Der Vater von Jules bekommt eine neue Arbeitsstelle, sein Vorgesetzter hört vom Wunsch Jules´, Priester zu werden und übernimmt die Kosten für das kleine Seminar in St. Gaulthier in der Diözese Bourges (1841). Und noch ein Wunder in der damals eher strengen Priesterausbildung: Er findet sehr verständnisvolle und offenherzige Leiter, die seine Berufung erkennen und ihn ohne Bezahlung bleiben lassen, als der Vater nach einem Jahr den Job wieder verliert und die Zahlungen ausbleiben. Und sie stützen ihn erfolgreich in seiner großen Krise, die nicht ausbleiben konnte als 17-jähriger unter lauter 12- bis 13-jährigen in seiner Klasse. Das Studium fällt dem Handwerker schwer, die strenge und eintönige Tagesordnung erdrückt ihn, es gibt keinen zum Reden mit gleichen Interessen, er wird nicht akzeptiert, kurz, er fühlt sich verloren. Da ist ihm besonders der Rektor eine große Hilfe, stützt und tröstet. Jules übersteht die Krise und bleibt. Er kann ein Jahr überspringen, es wird leichter für ihn bei den etwas Älteren.
Ein drittes Wunder: Bei einer Wanderung des Seminars (1842) will er mit zwei anderen den Weg abkürzen und stürzt über einen Felsen 30 m ab. Er gilt als tot, wird von den Mitschülern ins Seminar zurückgetragen. Das Requiem wird gerade vorbereitet, der Arzt kommt, um seinen Tod festzustellen, da wacht Jules aus seiner Bewusstlosigkeit auf. Er hatte wie in Trance nichts bewegen können und doch alles mitbekommen, was um ihn herum geschehen war.
Und noch ein viertes: 1844 ist Jules 20, sieben Jahre Wehrdienst warten auf ihn, wer einrücken muss und wer nicht wird ausgelost. Der Vater übernimmt das stellvertretend für ihn in Richelieu. Und gerade er, der in seinem Leben nie Glück hatte, manches auch etwas naiv in den Sand gesetzt hat, der klassische Pechvogel, zieht ein Freilos für den Sohn. Die Ausbildung kann weitergehen, 1846 wechselt Jules zum Studium ins Priesterseminar nach Bourges.
Die ersten Exerzitien dort führen zu einer ersten „Bekehrung“: Angesichts der Forderungen von Regeltreue, Abtötung und Demut erkennt er bei sich spirituelle Defizite und bemüht sich, von nun an ein perfekter Seminarist zu sein. Da er gewohnt ist, alles sehr konsequent zu tun, wird er für die anderen schwierig. Er wirkt noch ernster und verhärteter als zuvor, gilt als Rigorist, obwohl er doch nur alles vermeiden möchte, was ihn von Christus trennen könnte. Es ist ihm nichts vorzuwerfen, aber er ist unnahbar. Langsam merkt er, dass er damit Menschen eher abstößt, als sie zu Gott zu führen. Und er möchte doch Missionar werden!
„Wenn Gott ein Werk will, macht er aus Hindernissen Mittel zum Ziel. Er verlacht menschliche Weisheit, durchkreuzt die Erwartungen der Menschen; er ruft ins Dasein, was nach ihrer Meinung nie das Licht der Welt erblicken sollte. Er lässt das wachsen und reifen, was menschliche Weisheit zum Tode verurteilt hatte.“
P. Jules Chevalier
Alles verändert sich, als er im Studium vom Herzen Jesu hört. Das schlägt ein, bleibt nicht Theologie, sondern wird zur persönlichen Offenbarung. Christus ist nicht nur den Menschen gegenwärtig und soll/muss verehrt werden, nein, er liebt sie und sucht deren Liebe. Da geht es nicht mehr darum, was man zu tun hat, sondern was man sein kann: Teil einer ganz persönliche Beziehung mit Gott. Vielleicht, mit Sicherheit, das größte Wunder auf seinem Weg.
Aus den darauffolgenden Exerzitien kommt er völlig verändert zurück: freundlich, immer guter Stimmung, humorvoll, leutselig, einfach liebenswürdig und liebenswert. Da ist nichts Antrainiertes mehr, nichts Erzwungenes, da ist etwas frei geworden, verwandelt, aufgeblüht und gereift. Durch die Erfahrung der Liebe.
Das ist letztlich – neben seiner Konsequenz und Leidenschaft – die Basis all dessen, was nun folgen wird; das trägt und prägt ihn: Als Kaplan und später als Pfarrer in Issoudun, bei der schwierigen Ordensgründung und -entwicklung, im Streben, Herz Gottes auf Erden zu sein und dessen Liebe überallhin zu bringen und bei allen Kämpfen, die dem entgegenstanden. Ob das nun die politischen Kräfte oder die Freimaurer in Issoudun waren, die seine Arbeit zu be- und verhindern suchten, die Schließung aller Ordenshäuser und Vertreibung der Orden aus Frankreich 1880 oder eigene Mitbrüder, die 1889 eine Beschwerdeschrift über ihn nach Rom sandten. Das Kämpfen hörte bis zum Ende seines Lebens nicht auf: Noch zweimal wurde P. Chevalier infolge der politischen Kämpfe gegen die Kirche aus seinem Pfarrhaus vertrieben (1901 und 1907), beim letzten Mal erholte sich der nun schon 83-jährige nicht mehr. 800 Ordensmitglieder in fünf Provinzen zur Zeit seines Todes bestätigten das, was er in seinem Leben immer wieder erfahren hatte und das ihm zur Gewissheit geworden war:
„Wenn Gott ein Werk will, macht er aus Hindernissen Mittel zum Ziel. Er verlacht menschliche Weisheit, durchkreuzt die Erwartungen der Menschen; er ruft ins Dasein, was nach ihrer Meinung nie das Licht der Welt erblicken sollte. Er lässt das wachsen und reifen, was menschliche Weisheit zum Tode verurteilt hatte.“ (P. Jules Chevalier)